Kein Reisetagebuch. Heute passiert wieder nichts, aber das auf hohem Plateau. Es wird ein wenig geklettert und spaziert, und am Ende gibt es einen Notfall.
Dienstag, 16. Juli 2024
Es ist halb Acht, Terrasse vor der Blockhütte. Es ist bereits warm, die Sonne scheint, und heute verderben keine schlechtgelaunten Raucher die Stimmung. Rosanna und ich sind alleine.
“Haben Deinen Großeltern die Biscotti geschmeckt?”, fragt sie und stellt einen Caffé Doppio auf den Tisch den Frühstückstisch.
“Oh ja, sehr sogar”, lüge ich ohne rot zu werden. Tatsächlich haben meine “toskanischen Großeltern” die Kekse von Giuliettas Mamma gestern gar nicht aufgemacht. Aber dass die großartig sind, und Francesca und Lucio schmecken werden, daran besteht kein Zweifel.
Eigentlich flunkere ich also gar nicht. Ich greife der Wahrheit nur vor und zerre sie aus der Zukunft in die Gegenwart.
Heute morgen bin ich durch die Reihen der vielen, vielen Fischbecken und über die Ländereien der Farm gestrolcht und habe dabei noch zwei neue Seen entdeckt, die ich vorher noch nie gesehen habe.
“Die Anlage hier ist ECHT groß”, sage ich.
Rosanna lacht. “Das hier? Das ist GAR NICHTS. Das hier ist WINZIG.”
Ich mache dicke Backen.
“Das hier ist nur das Labor und die Versuchsanlage. Hier erprobt der Professore, Giuliettas Mann, neue Methoden und forscht. Die richtigen Zuchtanlagen sind viel, VIEL größer. Darin werden Fische in einer Anzahl gezüchtet, dass man damit Gewässer und Flüsse repopularisieren kann.”
“Äh”, gehe ich dazwischen, “Es gibt also Gewässer, wo Fische ausgestorben sind, und dann rückt der Professore an und besiedelt den ganzen Fluss oder See neu?”
“Ganz genau”, sagt Rosanna, “Bis vor zehn, zwanzig Jahren waren die italienischen Flüsse dreckig und tot. Jetzt sind sie sauberer, und nun müssen Fische neu angesiedelt werden. Auftraggeber sind die Regionen Italiens. Fische und Gewässer retten, das ist die persönliche Mission des Professore.” Sie putzt unsichtbaren Staub von einem der anderen Außentische.
“Er ist besessen von der Mission, schon von klein auf. Er hat überall Zuchtanlagen. Hier in der Gegend gibt es zwei, dann welche in den Abruzzen, eine weitere im Molise, eine bei Neapel, eine auf Korsika, eine in Kanada. Er reist ständig herum und kontrolliert die. Dazu die Forschung und die Kongresse und Vorträge und Initiativen und ein Podcast und was nicht noch alles. Wusstest Du, das er eine eigene Sendung auf RAI hat? “Fragen Sie Prof. Fisch”.”
Sie lacht, dann stockt sie kurz. “Er ist ständig unterwegs. Manchmal nicht einfach für die Familie. Hier oben kann es ganz schön einsam werden. Giulietta hat die beiden Kinder häufig allein aufgezogen. Aber nun. Die sind jetzt fast erwachsen, und Giulie hat ihre Arbeit und ihre Freundinnen. Also alles gut. Alles bestens.”
Die V-Strom 800 prescht über die Bergstraße.
Mittlerweile kenne ich den Verlauf und weiß auch, was hier morgens los ist (nicht viel). Deshalb nehme ich die Kurven mit höherer Geschwindigkeit und probiere aus, wie fix die Maschine wirklich auf schnelle Lastwechsel reagiert, wo sie genau hingeht, wieviel Kraft und Balance ich einbringen muss.
Langsam taste ich mich an immer extremere Schräglagen heran und achte genau darauf, wie sich das für mich anfühlt und was das Motorrad macht. Um wirklich RICHTIG gut mit der neuen Suzuki zu werden, so wie ich es nach Jahren auf der Barocca war, muss ich die Kiste und wie sie auf was reagiert bis ins Detail kennen. Eine bessere Umgebung als hier kann man sich für solche Erfahrungen kaum wünschen. Der Asphalt ist perfekt und die Witterung wie für Testfahrten gemacht.
Stellt sich raus: Die Suzuki fällt fast von selbst in die Kurven. Das war auf den nicht-soooo-schlechten OEM-Reifen schon so, aber mit den Tourance Next II ist es nochmal besser.
Für ein Motorrad dieser Größe und mit diesem Gewicht ist das keine Selbstverständlichkeit, aber die 800er steht der Handlichkeit der 650er in nichts nach. Besser noch: Bremsmanöver gelingen schneller und präziser, dank der echt guten Bremsen, und das Herausbeschleunigen ist mit dem kraftvollen Motor ein Vergnügen. Echt, ich habe bei noch keiner Suzuki so gute Bremsen und einen solchen Druck von unten heraus erlebt, auch nicht bei der 1000er oder der 1050er V-Strom.
Als ich gerade durch eine Kurve fetze, die in sich noch eine leichte Steigung hat und die ich mit einer Schräglage leicht außerhalb meiner Komfortzone nehme, kracht es plötzlich und tut einen ordentlichen Schlag. Irgendwas hat aufgesetzt, und die Fußraste schien es nicht zu sein. Interessant. Kriege ich das nochmal hin?
Rechts nicht, aber links, stellt sich raus, kann ich die 800er sehr schnell zum Aufsetzen bringen. Das liegt erstaunlicherweise aber nicht unbedingt an der Maschine. Wie ich später feststelle, setzt sie mit dem Seitenständer auf, genauer gesagt: Mit der Seitenständerverbreiterung, die ich da drangepfriemelt habe. Noch bevor ich mit der Fußraste auf den Boden komme, schrappt dessen Aluplatte über den Asphalt:
Das ist Käse, aber nicht dramatisch. Ich hatte eh erwartet, dass die Maschine aufsetzt. Die V-Strom 800 hat immerhin nur 15,5 cm Bodenfreiheit und zusätzlich noch einem Hauptständer. Die Geländeversion der V-Strom, die 800DE, hat 22cm, was mir aber zu hoch ist. Die alte 650er hatte 16,5 cm, was sehr gut passte. Wurscht.
Ich fahre nach Castelnovo ne´Monti (wörtlich: Die neue Burg in den Bergen), was der einzige größere Ort der ganzen Region hier ist – bei 10.000 Einwohnern, wenn man die umliegenden Ortsteile und Weiler, die Frazioni, hinzuzählt.
Hinter dem Ort ragt eine auffällige Felsformation in den Himmel, die ich nie wahrgenommen habe, als ich früher hier war. Kein Wunder, hat ja meistens geregnet.
Erst auf Insta bin ich darüber gestolpert.
Gefühlt sind in Italien alle auf Instagram aktiv.
Den Fels hier habe ich im Account von Antonetta entdeckt. Sie ist Fotografin, lebt in Castelnovo ne´Monti und knipst bevorzugt diesen Berg, besonders gerne bei Nacht, und unterlegt die Bilder und Videos immer mit dem absolut perfekt passenden Song. Echt, ihre Aufnahmen sind der Hammer. Antonetta gibt sogar Fotokurse.
Wenn ich das richtig verstanden habe, war sie früher Model – und das sieht man. Sie ist ein Jahr älter als ich, sieht aber zehn Jahre jünger aus, ist gertenschlank und sehr sportlich – kein Wunder, wenn sie dauernd die Berge hoch und runter flitzt. Keine Ahnung, was in dieser Gegend im Wasser oder in der Luft ist, das hier die schönsten Frauen Italiens herkommen. Aber nun, ich bin wegen des seltsamen Berges hier.
Seltsam ist er, weil der “Pietra di Bismantova” wie ein Fremdkörper aus dem Boden ragt und keine Spitze hat, sondern eine platte Ebene auf seinem 1.047 Meter hohem Haupt trägt.
Mein Ziel ist ein Parkplatz am Fuß des Bergs. Der müsste hier eigentlich schon bald in Sicht kommen.
“Jetzt links abbiegen”, sagt Anna und ich sehe eine Art besseren Feldweg, der an einem Hügel vor dem Felsen hochführt. “Nee”, denke ich. Der Parkplatz ist gut frequentiert, da MUSS eine ordentliche Straße hinführen. So eine wie die, auf der ich gerade fahre: Einspurig aber breit, mit nagelneuem Asphalt und sogar mit einer Radspur.
DAS muss die Straße zum Parkplatz sein, nicht dieser Feldweg da. Das ist bestimmt wieder eine von Annas skurrilen Abkürzungen, bei der man eine halbe Minute spart aber dafür durch einen Fluss fahren muss oder sowas.
Ich gebe Gas und überhole einen alten Fiat Cinquecento. Witzig, im Bild der Bordkamera sieht es so aus, als hätte die V-Strom einen Schnabel und würde den Kleinstwagen auffressen.
…
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