Kein Reisetagebuch (6): In der Heißluftfriteuse
Kein Reisetagebuch. Heute erfahre ich, dass ich berühmt bin. Es wird viel geflucht. Mein Orientierungssinn begibt sich auf Abwege. Ich sitze unvermittelt in einer Heißluftfriteuse. Habe eine Erkenntnis. Ein faschistischer Berg geht den Bach runter. Ach ja, und Annas Hund fährt Auto. Es wird ein langer Tag.
18. Juli 2024
Kurz nach Sieben stehe ich bei Rosanna in der Tür des Frühstücksraums. Bin noch ein wenig verpennt. Die Nacht nicht gut geschlafen. Wie auch? Heute ist Tag des Abschieds. Giorno della partenza, wie Giulietta sagt. Vor der Tür meines Zimmers steht schon die V-Strom und wartet nur darauf, wieder auf die Straße zu kommen.
Ich höre nur mit halbem Ohr zu was Rosanna heute Morgen erzählt, während sie mir ein großes Stück Torta Albicocca (Gesprochen: Albikokka) schneidet, Pfirsichkuchen. Bis ich merke, dass es in ihrer Erzählung um mich geht.
“Ich war gestern in der Osteria im Dorf. Die Wirtin hatte Geburtstag, und weißt Du was? Die haben mich da direkt über Dich ausgefragt, die Belegschaft und die Stammgäste! Du warst eh Gespräch des Abends. Ein Deutscher, hier! Und der will auch noch unbedingt italienisch sprechen! Was ja verrückt ist, weil Elena so gut Englisch spricht. Sie ist Rumänin, weißt Du?”
Ich bin völlig fasziniert. Wie kann man so viel reden ohne Luft zu holen?
“Und dann hast Du neulich Abend auf Insta ein Bild aus dem Ristorante gepostet und jetzt folgen die dir alle!” Ach. Daher die ganzen neuen Follower. In Italien ist jeder auf Insta. Zumindest jede Frau. Und deren Mudder.
“Da haben sie dann in der Story gesehen, dass Du mit dem Motorrad reist und das Du da oben am Berg warst und den Passo delle Radici gefahren bist und…”
-“Bin ich?”
“Jaja, und…”
“Wo ist der Passo delle Radici?”, will ich wissen. Kann mich nicht an den erinnern.
“Na HINTER oben am Berg!”, sagt Rosanna und macht ein „Ts“-Geräusch als ob jedes Kind wissen müsste, dass der Radieschenpass hinter den sieben Bergen ist.
“Und Du warst auf der Big Bench und am Lago Calamone. Das Du bei uns wohnst haben sie auch gesehen und mich dann über Dich ausgefragt. Ich habe erzählt das Du schon ein paar mal hier warst und ein Freund von Giulietta bist und auch die Sara von oben am Berg kennst und…”
Ich vergrabe das Gesicht in den Händen und stöhne. Offensichtlich bin ich das Dorfgespräch. Muss man auch erstmal hinkriegen.
“Sono famoso?”, frage ich mit geschlossenen Augen, bin ich jetzt berühmt?
“Si!”, sagt Rosanna und nickt.
Der letzte Koffer hängt am Motorrad, nichts ist im Zimmer vergessen. Ich trete den schweren Gang den Berg hinauf zur Bar an.
Als sie mich sieht, kommt Giulie hinter dem Tresen der Bar hervor. “Partenza?”, ruft sie.
Ich nicke und sie streckt die Arme aus und zieht mich an sich.
Fünf Tage bin ich hier gewesen, aber es fühlt sich gerade so an, als sei ich erst vor fünf Minuten angekommen.
Ich fühle mich elend. Es ist, als würde mein Körper dagegen rebellieren, diesen Ort zu verlassen.
Sie bemerkt meinen Blick. “Tutto a posto?”, Alles in Ordnung?
“Giulie, ich…”
“Ehi”, unterbricht Sie mich. Das ist italienisch und bedeutet “hey”. Klingt auch fast genauso, nur ohne das “h”.
Sie sieht mich direkt an, mit diesen strahlenden, grauen Augen und sagt dann mit einem Lächeln und so langsam, dass ich es auf Anhieb verstehe “Non dire addio, ma a presto!”. Sag nicht auf Wiedersehen, sondern bis bald.
Ich nicke, und für einen Moment stehen wir uns schweigend gegenüber.
“Un’ultima foto?”, frage ich.
“Certo!! Cinzia! Scatti una foto di noi!” ruft Giulie und winkt eine Freundin heran, die in der Nähe bei einem Caffé sitzt.
Ich bin so überrascht, dass ich die heraneilende Frau mit “Buona Sera” begrüße, guten Abend.
Giulie stöhnt laut auf, als sie das hört und macht “NOOOOOOOOOOO”, und ich klatsche mir ob meiner eigenen Doofheit mit der Hand an die Stirn.
Oh man, ich stelle mich ja bei der Abfahrt genauso bescheuert an wie bei der Ankunft. Irgendwie setzt manchmal mein Sprachzentrum in der Nähe von gewissen Personen aus. Aber Giulietta hat es halt drauf mich aus dem Konzept zu bringen. Die Frau ist in jeder Minute überraschend.
Cinzia macht mit meinem Handy einen Schnappschuss, auf dem wir beide in die Morgensonne blinzeln.
Giulie haucht mir noch einen Abschiedskuss auf die Wange und sagt “A presto”. Dann eilt sie wieder in die Bar, an deren Tresen schon ein paar Straßenarbeiter lautstark auf ihren Caffé warten.
“A Presto”, wiederhole ich, drehe mich um und gehe zum Motorrad.
Die Suzuki rollt aus dem Tor der Farm, als mir ein Auto entgegenkommt. Der Fahrer hebt die Hand und nickt mir zu. Wer ist denn das? …das ist ja der Hausmeister! Der Grummel! DER GRÜSST! Das ist ja wie ein Ritterschlag!
Ich hupe ein letztes Mal und grüße zur Bar hinüber, dann gebe ich Gas und bin verschwunden.
Und DANN fällt mir ein, dass ich ob dieses verwirrenden Abschieds ganz vergessen habe, mich auch von Annamaria, Giulies Mamma, zu verabschieden. Das ist mal mindestes grob unhöflich und wird beim nächsten Besuch bestimmt noch Ärger geben.
Beim nächsten Besuch.
Oh man.
Ich bin kaum aus der Tür, denke ich schon daran, wann ich wohl wieder hier sein kann.
“Porto un pezzo del tuo cuore nel mio. Così sei sempre con me.”
Den Satz habe ich gestern Abend gelernt.
Ich trage ein Stück von Deinem Herzen in meinem. Damit bist Du immer bei mir.
Ist der Gedanke nicht wunderschön?
Oder anders: Ich trage ein Stück von hier in meinem Herzen. Damit reisen wir jetzt gemeinsam.
Ich schüttele den Kopf um ihn frei zu bekommen, und versuche mich auf die Straße zu konzentrieren.
Der Weg führt wieder über den Pass in der Bergkette, die die Emilia Romagna und die Toskana trennt, dann durch die Täler Richtung Küste.