Reisetagebuch Städtetour (6): Unfinished Business mit Jessica Rabbit

Februar 2018: Tag sechs einer Städtereise südlich der Alpen. Heute geht es nach Turin, wo ich meinen Onkel aufgeben möchte und Jessica Rabbit aus dem Jahr 200 v.C. begegne.

Mittwoch, 14. Februar 2018, Genua
Als ich um kurz nach Acht die Tür von Lo Zenzero hinter mir zuziehe, fühlt sich das seltsam an – als würde ich zu früh von hier weggehen.

Leicht melancholisch, aber gespannt auf den Tag trabe ich die hundert Meter die Straße runter, an deren Ende sich der Bahnhof Brignole befindet.

Als sich die Türen des Regionale Veloce, der mich aus der Stadt bringen wird, schließen, fühlt sich das auch nicht wie ein Abschied an – ich werde bestimmt mal wieder nach Genua kommen, das weiß ich jetzt schon.

Der Zug rumpelt unter Genua hindurch, sieht am Bahnhof Principe nochmal kurz Tageslicht, dann macht er sich auf seinen langen Weg durch die Tunnel der umliegenden Berge.

Bei Roncio kommt er dauerhaft wieder an die Oberfläche. Hier sind die Berge schneebeckt, und alles ist übergefroren.


Hinter den ligurischen Bergen geht es über die weite Ebene und auf Alessandria zu, dann durch Asti (ja, das mit dem Spumante!) und schließlich wieder nach Norden.

Nach knapp zwei Stunden fährt der Zug in Turin ein. Die Gepäckaufbewahrung an Gleis 1 heißt mittlerweile nicht mehr so, sie ist jetzt ein „KI-Point Reise-Multi-Servicecenter“ und wird anscheinend von einer Privatfirma betrieben.

Ich wuchte den großen Rucksack, der heute morgen auch das kleine Daypack und alles andere enthält, auf die Gepäckablage neben der Theke.

Der Angestellte dahinter guckt mich keck an und sagt: „Was kann ich für sie tun?“

Will der mich veralbern?“ Wonach sieht´s denn aus? Aber er hat es geschafft, ich bin aus dem Tritt und finde die passenden Worte nicht. „Kann ich meinen Onkel aufgeben?“ sage ich dann und deute auf den Rucksack. Der Angestellte zieht eine Augenbraue in die Höhe und sagt: „Sie sind Franzose?“ „Deutscher“, antworte ich. „Ah! Ich spreche auch ein wenig Deutsch“, sagt er und erklärt mir in perfektem Deutsch, dass er meinen Onkel nicht annehme, meinen Rucksack aber schon. Jaja, ich habe „Zaio“ und „Zaino“ verwechselt.

Auch in Turin scheint die Sonne aus allen Knopflöchern, und von den – 5 Grad, die es angeblich noch heute morgen hier waren, ist nicht mehr zu merken. Tatsächlich kratzt die Temperatur schon wieder am zweistelligen Bereich.

Ohne Gepäck laufe ich in die Stadt. Unterwegs klingelt mein Telefon. „Pronto!“, melde ich mich routiniert, im nächsten Moment verstehe ich kein Wort mehr, weil am anderen Ende jemand einen neuen Geschwindigkeitsrekord in Schnellsprechen auf italienisch aufzustellen versucht. „Marta, bist Du das?“, frage ich. Und tatsächlich, es ist meine Gastgeberin aus Genua. „Hey, ich bin gerade im Appartement!“, sagt sie. „Sag mal, hast Du den Duschkopf repariert?“ Oh, sie hat es bemerkt. „Ja, ausgetauscht. Der alte war nicht mehr so gut“, sage ich dann.

Für einen Moment ist es so still, dass ich schon denke die Verbindung sei weg. Dann höre ich schallendes Gelächter. Marta lacht und lacht und lacht und bekommt sich gar nicht mehr ein. „Ihr Deutschen…“, japst sie dann, ganz außer Atem, „seid echt verrückt mit eurer Heimwerkerei. Wenn Du das nächste mal da bist, kannst Du Dich auch um die kaputte Steckdose im Wohnzimmer kümmern. Oh, und irgendwas gibt es bestimmt auch zu bauen“, sie bricht wieder in Gelächter aus. Ich muss grinsen. „Na, dann haben wir eine Verabredung“, sage ich. Sie kichert „Wenn alle Gäste aus Deutschland so sind, brauche ich mehr davon, dann ist das Haus bald saniert“. Sie lacht immer noch, als wir auflegen.

Vom Bahnhof aus sind es nur 900 Meter bis zu meinem unfinished Business hier, dem weltbekannten ägyptischem Museum von Turin.

Ich versuche schon lange das ägyptische Museum zu besuchen, nie hat es geklappt. Als ich mal mit dem Motorrad hier war, war keine Zeit. Bei einem späteren Besuch war die Eintrittskarte verdächtig billig, was, wie sich dann herausstellte, daran lag, dass das Museum renoviert wurde und nur ein einziger Raum zugänglich war. Auch heute erwarte ich irgendwelche Probleme. Und tatsächlich: Problem Nummer 1 ist schon mal, dass um diese Uhrzeit und um diese Jahreszeit Schulklassen von 6jährigen hier en masse unterwegs sind. Der Lautstärkepegel in der Lobby ist ohrenbetäubend.

An der Kasse erhalte ich neben dem Ticket auch einen Multimediaguide, ein flaches Gerät mit Touchscreen und Kopfhörer, dass mich durch die Ausstellung begleiten soll. Das Gerät ist allerdings, das merke ich schnell, gut gedacht und schlecht designt. Der Bildschirm ist nicht kapazitiv, sondern druckempfindlich, und während ich mich durch die Kinderfluten kämpfe, kratzt das Lautsprecherkabel über die Bedienoberfläche und betätigt wahllos Tasten. Als ich endlich dazu komme den Kopfhörer auzusetzen, vernehme ich daraus arabisch. WTF?

Tatsächlich, das Gerät ist auf arabisch eingestellt. Auf die Tour für Kinder. Wie bekommt man das wieder weg? Es gibt keine Möglichkeit zurück zum Sprachmenü zu kommen. Vielleicht gibt es eine Resetkombination? Das Gerät hat nur zwei Tasten, aber egal und in welcher Kombination ich die drücke, es passiert nicht. Na toll. Leicht genervt laufe ich zurück zum Eingang und schreie über den Kinderlärm einer Museumswächterin zu „Wie kann ich die Sprache einstellen?!?“ „9-9-9“ kann sie mir noch zurufen, dann ist sie im Strom der Kinder verschwunden. Tatsächlich, die Geheimkombination funktioniert, und endlich erzählt mir das Gerät was auf deutsch.

Der Audioguide ist ganz gut, denn das Gerät kann auf dem Bildschirm zeigen, über was es gerade spricht. Was weniger gut funktioniert ist das Tracking. Eigentlich soll das Gerät von selbst die richtigen Infos abspielen, wenn es merkt, dass ich mich einem bestimmten Exponat nähere. das funktioniert aber leider gar nicht. Allein drei mal fängt ein und derselbe Track an zu spielen, als ich in ganz unterschiedlichen Räumen bin, dann bleibt die Kiste stumm und das Display geht aus. Wasn jetzt? Ich drücke auf dem Touchscreen rum und auf den beiden Tasten, aber das Gerät ist tot. Na toll.

Einen Raum lang genieße ich die Ruhe, dann merke ich aber, dass der Guide mehr Infos zur Verfügung stellt als die spärlichen Texte im Museum. Wieder wende ich mich an eine Wächterin, wieder lerne ich einen Trick: Sie hämmert mit dem Zeigefinger 10, 20 Mal auf dem Display herum, dann springt das Gerät wieder an. „war auf Standby“, sagt sie und lächelt. Ich danke ihr und denke: Scheisskiste.

Turin hat die größte ägyptische Sammlung außerhalb von Ägypten, und das sieht man. Ägyptenfans seufzen wohlig, wenn sie sowas hier sehen:

Oh, Nilpferde! Denke ich, als ich das hier sehe.

Ich habe gerade erst „Assassins Creed Origins“ gespielt, das Ägypten um 100 v.Chr. als lebendige Spielwelt simuliert. Da bin ich etwas unbedarft am Nil langgetappst und dachte „Oh, Nilpferde. Wie niedlich“ – ja, von wegen. Die Nilpferde im Spiel sind schnell und gnadenlos: Ich sah noch, wie eines böse guckte, im nächsten Moment walzte eine Wand aus Nilpferd auf meine Spielfigur zu, dann war Game Over.

Nun lese ich auf einer Tafel im Museum, dass die Nilpferde ein steter Quell des Ärgers waren. „Stand unvermittelt einem Nilpferd gegenüber“ war eine verbreitete Todesursache. Gleichzeitig bewunderte man die Biester aber auch wegen ihrer Stärke. Man gab den Toten deshalb kleine Nilpferde als Grabbeigaben mit. Um wirklich völlig sicher zu gehen, dass die im Duat, der Totenwelt, nicht den Verstorbenen unvermittelt angreifen konnten, brach man aber vor der Beerdigung den Nilpferd-Statuetten die Füße ab! Clever!

Das Museum wurde jahrelang umgebaut, aber ganz ehrlich: Gelohnt hat sich das nicht. Klar, das Gebäude ist nun Innen nagelneu und die Treppen sind ästhetisch. Woran es hier aber wirklich krankt ist das Museumskonzept. Das ist, allem Audioguidegedöns zum Trotz, komplett überholt. Hier werden einfach nur Exponate ausgestellt, so, wie man es früher mal macht. Das reicht meiner Auffassung nach heute nicht mehr aus. Kontext is King, und den bekommt man hier praktisch nicht. Ich würde gerne erfahren, wie die Menschen in Ägypten gelebt haben, wie die Gesellschaftordnung war, wie sie ausgesehen haben. Davon gibt es aber nichts. Es wird eine Tunika ausgestellt, aber wie sah das ganze Gewand aus? Das sind alles Sachen, die sich darstellen ließen, aber nichts davon wird gezeigt. Und der hundertste kaputte Tonkrug ist halt nur mäßig spannend.

Tunika.

Kaputte Krüge.

Manchmal geht es erstaunlich frivol zu. Hier das Bild einer Tänzerin, das sich wohl ein Ägypter in die Wohnung gestellt hat. Vermutlich auf den Fernseher.

Und hier sehen wir irgendeine Göttin, die einen Mann defloriert, um dann die Welt zu gebären. Vielleicht sehen wir hier aber auch was ganz anderes.

Und hier noch eine Fassung von Jessica Rabbit aus dem Jahr 1.000 vor Christus. Sie war nicht so züchtig wie die Disney-Version, hier hängt eine der voluminösen Brüste aus dem Minikleid.

Und was das hier soll, weiß niemand so genau. Rumlaufen ohne Schlübber. Ts.

Die Halle mit den Sarkophagen ist beeindruckend. Es wirkt wirklich so, als habe sich in Ägypten über Jahrtausende alles nur ums Sterben gedreht. Das Leben war nicht so wichtig, Hauptsache nach dem Tod ein toller Sarkophag in einer schönen Nekropole.

Manche Ausstellungsstücke haben ein wenig was von Star Gate. Oder andersrum: Ich sehe die an und weiß, woher die Serienmacher ihre Inspirationen hatten.

Interessanter wird es, als sich die Ausstellung thematisch der Zeit um 80 v.Chr. nähert. Jetzt herrschten Römer und Griechen über Ägypten, und die ließen sich mal nach griechischer Mode und mal nach ägyptischer porträtieren, damit sie von beiden Bevölkerungsgruppen akzeptiert wurden.

Zum Abschluss des Rundgangs landet man in einer großen Halle, in der riesige Statuen stehen, die mal das Äußere von Tempeln geschmückt haben. Die Halle kenne ich schon, das war genau der Raum, in den ich vor 3 Jahren rein durfte.

Für die „150 Minuten-Tour“ brauche ich nur 120, dann verlasse ich das Museum und laufe noch ein wenig durch die Stadt. Turin und ich werden nie richtig warm werden. Zu aristokratisch, zu Nase hoch ist diese reiche Stadt. Die breiten Straßen und die klassizistischen Häuser vermitteln Kühle und Distanz, und die Geschäfte zeigen, das dies eine reiche Modestadt ist.

Ich schlendere zurück zum Bahnhof und löse meinen Rucksack aus. Ein Frecciarossa wird mein nächstes Reisemittel sein.

Der fährt gen Westen, über Mailand und Brescia und am Südrand des Gardasees entlang.

Die Fahrt in der Holzklasse ist bequem, denn auch hier gibt es bequeme Ledersessel, für jeden eine Sitzplatz an einem Tisch, Steckdosen, WLAN usw.

Die Sonne geht unter, und immer noch zieht draußen der Veneto vorbei. Ab Padua ist der einzige Mitreisende im ganzen Wagen Rucksack. Er ist ein angenehmer Begleiter, quatscht nicht viel und macht keinen Lärm.

Um kurz nach halb neun rollt der Zug über eine lange Brücke vom Festland in die Lagune, dann läuft er in Venedig ein.

Als ich vor den Bahnhof trete, riecht es ein wenig nach Seeluft. Definitiv anders als in Turin. Es ist kühl, und vor dem Gebäude stehen Händler, die Glühwein anbieten. Gerade versucht einer, eine Gruppe asiatischer Touristen dafür zu begeistern. Ein mutiges Mädchen mit einer riesigen Brille – die Gläser sind so groß wie Bierdeckel, das ist jetzt Mode – probiert von dem Gebräu, schlägt dann die Hände vor den Mund und beginnt zu kichern, worauf alle anderen auch einen Becher wollen. Ich muss grinsen. Kontakt mit fremden Kulturen und Mut zum Probieren ist gut. Manchmal folgt dann ein Kater.

In Venedig checke ich im Caprera ein. Das liegt in einer winzigen Nebengasse der Lista del Spagna, einer der Hauptstraßen, durch die sich die Touristenströme walzen. Das Hotel liegt gerade mal 5 Minuten vom Bahnhof entfernt, trotzdem ist es absolut still. Ich hatte es im Sommer des vergangenen Jahres entdeckt und wollte unbedingt mal hier übernachten.

Das Hotel entpuppt sich als familiengeführter Betrieb. Die Zimmer sind winzig, aber das ist für Vendig normal.

Die Karte von Venedig, die mir der Hotelier anbietet, lehne ich dankend ab und starte gleich wieder hinaus in die Nacht. Venedig im Dunkeln ist nämlich großartig. Immer wieder entdecke ich Besonderes in den kleinen Lichtinseln, aus denen die Stadt in der Nacht besteht. Sogar eine Eisbahn und die übriggebliebenen Reste eines Weihnachtsmarkts entdecke ich hier.

Nächtlicher Rundgang durch Venedig.

Dann gehe ich in einem nahgelegenen Conad ein Abendessen einkaufen: Fertige Tagliatelle mit Sugo, Bohnen und zum Nachtisch Reiskuchen. Hmmmm, Reiskuchen.

Tour des Tages: Von Genua über Turin nach Venedig. Rund 600 Kilometer, mit dem Zug in fünf Stunden machbar.

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Kategorien: Ganz Kurz, Reisen | 4 Kommentare

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4 Gedanken zu „Reisetagebuch Städtetour (6): Unfinished Business mit Jessica Rabbit

  1. Modnerd

    Interessant, wie immer – meine Samstagmorgen-Lektüre. Eine Frage bleibt aber unbeantwortet: Wohin geht diese Tür?

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  2. zimtapfel

    Das ist die Badezimmertür im Spiegel, Herr Modnerd.

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  3. Was Frau Zimt sagt, das ist ein Spiegel und die Badezimmertür 🙂

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  4. modnerd1138

    Ja, wenn man das weiß wird plötzlich alles ganz klar …

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