Reisetagebuch Städtetour (4): Goethe vs. Altered Carbon oder “Wer fremde Sprachen nicht kennt…”

Reisetagebuch Städtetour (4): Goethe vs. Altered Carbon oder “Wer fremde Sprachen nicht kennt…”

Februar 2018: Tag vier einer Städtereise südlich der Alpen. Heute besuche ich alte Freunde, entdecke Orte, von denen sich M.C. Escher inspirieren ließ und habe überraschende Erkenntnisse.

Montag, 12. Februar 2018, Genua

Das Elternhaus der Jugend.
Die erste eigene Wohnung.
Der Ort, an dem man seine erste Liebe geküsst hat.

Von wie vielen Orten kann man sagen, dass sie einen nie wieder los lassen und für den Rest des Lebens begleiten werden? Einer der Orte, die sich in mein Herz gebrannt haben, ist unzweifelhaft Staglieno. Oder genauer: Der Cimitero Monumentale di Staglieno.

Gelegen etwas oberhalb im östlichen Tal von Genua, links und rechts des Sturzbachbetts des Bisangno, ist die Ortschaft Staglieno eine der ältesten Siedlungen Italiens. Aus ihr entwickelte sich Genua, von dem Staglieno heute ein Stadtteil ist. Hier liegt auch der Cimitero Monumentale, der Monumentalfriedhof.

Das erste Mal war ich 2012 hier, und damals bin weggefahren mit dem Gefühl zu wenig gesehen zu haben. Deshalb habe ich mir drei Jahre später ein Hotel in Genua genommen und bin einen halben Tag auf Staglieno rumgelaufen. Und jetzt, wieder drei Jahre später, zieht es mich wieder hier hin.

Als ich aus dem Bus der Linie 13 nach Prato steige, schiebt sich die Morgensonne gerade erst über den Bergkamm.

Ein Lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht, als ich mich dem Eingang nähere. Endlich wieder hier… es ist, als ob ich alte Bekannte besuchen würde.

Am Eingang des Geländes spreche ich einen der Pförtner an. Ein alter Brummbär mit Bart und Brille, der aussieht wie ein ergrauter Bud Spencer. Er sieht mich sofort missmutig an, aber davon lasse ich mich nicht abschrecken. “Hätten Sie vielleicht eine Karte für mich?”, frage ich, und der Brummbär guckt mich an, dann lächelt er. “Natürlich, natürlich”, sagt er und bittet mich in das kleine Pförtnerbüro, dass ich schon kenne.

Er kramt hinter dem Tresen herum und holt eine Karte heraus. Offensichtlich muss selbst die Genueser Verwaltung sparen. Die Karte ist aus billigem Papier, viel weniger wertig als die lackierte Karte, die ich von meinem letzten Besuch noch im Rucksack habe.

Ein anderer Friedhofswächter kommt vorbei, stoppt kurz, sieht mich direkt an, kneift die Augen zusammen, dann verschwindet er wieder. Ich muss ein Grinsen unterdrücken. Ich hatte gehofft den hier zu treffen!

“Interessiert Sie etwas besonders?”, fragt der Brummbär hinter dem Tresen. “Ähm, ja, das Grab der Familie Riba-Udo”, sage ich. Der Brummbär guckt einem Moment verwirrt, dann sagt er, “Ach, Riba_udo”.

Mist, leicht verkehrt ausgesprochen und schon versteht es keiner mehr. “Joy Division!”, sagt der Brummbär, und jetzt leuchten seinen Augen richtig. Offensichtlich freut er sich, dass ich Interesse an seinem Arbeitsort zeige.

Er holt einen Ordner unter dem Tresen hervor und schlägt ihn auf. Er ist voller alter Fotos von Grabstätten, sorgfältig per Hand beschriftet und in Klarsichthüllen untergebracht. “Hier, das hier war das zweite Albumcover von Joy Division”, sagt er und erklärt mir dann ganz genau den Weg dahin. Einen Weg, den ich schon im Schlaf finden würde. Wieder kommt der andere Pförtner vorbei, guckt mich einen Moment an, kneift die Augen zusammen, als ob er sich an etwas zu erinnern versucht und haut wieder ab. Ein kleiner, drahtiger Mann Anfang 50, mit grauen Haaren. Er wirkt etwas schmutzig, aber das sind Pigmentstörungen.

“Wie sind sie auf Staglieno gekommen? Über das Internet, was?”, fragt der Brummbär. “Jaja”, sage ich. Nichts könnte der Wahrheit ferner sein, immerhin bin ich es , der das Internet mit Sachen über Staglieno vollschreibt und durchaus schon andere zum Besuch motiviert hat.

Ich bedanke mich bei dem Brummbären, der nun fast im Kreis grinst, weil er mir so toll helfen konnte, dann trete ich ins Sonnenlicht vor dem Büro. Der andere Pförtner wartet draußen und fängt mich ab. “Sind sie Engländer?”, fragt er und schiebt seine Brille auf die Stirn. “Nein… Moment… Sie sind Deutscher!”, sagt er und zuckt kurz mit dem Gesicht, wodurch seine Brille wieder auf der Nase landet. Er macht das dauernd.

Ich nicke und sage dann auf Deutsch: “Wer fremde Sprachen nicht kennt…”

“…der weiß nichts über seine eigene” vollendet der Pförtner das Zitat von Goethe und guckt leicht verblüfft, dann müssen wir beide lachen. “Wir sind uns schon begegnet”, sage ich. Vor drei Jahren hat der Mann mich mit seinen Sprachkenntnissen beeindruckt, und mit eben diesem Zitat, das mich seitdem begleitet.

“Kennen sie auch die italienische Übersetzung? Chi non conosce le lingue straniere non sa nulla del proprio! Man muss seine Sprache propria beherrschen!” ich grinse. Jetzt habe ich die Gelegenheit die Fragen beantwortet zu bekommen, die ich vor drei Jahren nicht stellen konnte. “Wo haben Sie so gut Deutsch gelernt?”, frage ich. “Ich spreche nicht nur deutsch. Auch englisch, französisch und spanisch spreche ich auf diesem Niveau”, sagt er und beantwortet die Frage damit genau: Gar nicht. “Weil es so ein Vergnügen ist, Sprachen zu erlernen” Er ergreift meine Hand. “Ich bin Giovanni. Oder Hans, auf Deutsch. Oder Jean, auf französisch!” “Angenehm”, lache ich und erkläre, woher mein Name kommt, und das es für mich eine Qual ist Sprachen zu lernen und ich überhaupt kein Talent dafür habe. Aber Italienisch fasziniert mich, weil die Sprachmelodie einfach schön ist. Wir sprechen über dies und das, aber wie und wo Giovanni-Jean-Hans nun Deutsch gelernt hat, bekomme ich nicht aus ihm heraus.

“Haben sie schon unseren illegalen Führer getroffen?”, fragt Giovanni. “Ein Rentner, schon seit 25 Jahren. Er bittet um ein paar Euro für eine Führung. Ist natürlich illegal.” “Klar”, sage ich und weiß nicht, ob Giovanni mich vor einem Nervfaktor warnen oder Werbung machen will.

“Ich habe noch ein Geschenk für Sie”, sagt Giovanni dann. “Und noch eines”. Er verschwindet kurz im Friedhofsbüro, dann kommt er mit zwei kleinen Büchern wieder. “Berühmte Persönlichkeiten im Pantheon” und “Tourenempfehlungen für Staglieno”. Das ist toll, diese Bücher hat nicht jeder. Zusammen mit dem “Kunstführungen auf Staglieno”, das ich vom letzten Mal noch habe, besitze ich jetzt Werke, die nicht jeder hat.

Eines der Werke ist auf italienisch. “Super, dann kann ich üben”, sage ich und schüttele zum Abschied die Hand dieses ungewöhnlichen Mannes.

Dann trete ich durch den unscheinbaren Torbogen. Wie überall blättert auch hier die Farbe von den Wänden. Das gehört zu Staglieno, das gehört zu Genua. Beautiful Decay.

Ich betrete den ersten von mehreren Gängen. Grabnischen ziehen sich den den Gängen entlang, jede mit einer Marmorplatte davor. Der Gang ist dunkel und wirkt unheimlich, aber das sind nur die ersten Meter.

Als ich den Gang gequert habe, öffnet sich das Bauwerk zu einem Säulengang, einer Arkade, die an einer Seite offen ist und von Sonnenlicht geflutet wird. Zu beiden Seiten stehen, sitzen, liegen und schweben menschengroße Figuren.

“Città delle ombre”, Stadt der Schatten, oder “Città senza tempo”, Stadt ohne Zeit, so nennen die Italiener Staglieno.

Mark Twain schrieb über den Monumentalfriedhof: “An diesen Ort werde ich mich erinnern, selbst wenn ich die Paläste vergessen habe. Ein breiter Säulengang aus Marmor umgibt eine große leere rechteckige Fläche; auch der Boden ist aus Marmor, und auf jeder einzelnen Platte ist eine Inschrift. Auf beiden Seiten entlang des Ganges kann man Denkmäler, Grabmäler und Skulpturen bewundern, die bis ins kleinste Detail ausgearbeitet sind und Harmonie und Schönheit ausstrahlen.“

Herr Twain hat recht.
Auch für mich ist dieser Ort einer der besondersten auf der Welt. Dieser Ort ist ein Teil von mir geworden, in genau dem Moment, als ich ihn das erste mal betrat. Vielleicht, weil er das schon immer war. Es hört sich dumm an, aber schon die erste Begegnung fühlte sich an wie nach Hause kommen. Staglieno ist ein ruhiger, stiller, in sich gekehrter Ort voller Reflexion. Ganz allein durch schier endlosen die Säulengänge zu laufen und Szenen aus dem Leben zu sehen, fühlt sich ein wenig an, als ob ich durch einen Teil meines Geistes laufe. Eben auch den stillen, reflektierten Teil, der den Kern meiner Persönlichkeit ausmacht.

Das hier ist Staglieno für mich:

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und hier noch ein längeres Video von 2015:

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Der wichtigste Teil von Staglieno: Links der Eingang, oben das Pantheon mit seinen ausladenden Flügeln. Rund um die Grabfelder verlaufen die langen Gänge mit den Kolonnaden und Arkaden.

Auf Staglieno war es für die Reichen nämlich üblich, ein Kunstwerk auf die eigene Grabnische zu setzen. Dafür wurden die besten Bildhauer ihrer Zeit verpflichtet. Was erstaunlich ist: religiöse Bezüge in Form von Kreuzen oder Jesusdarstellungen findet man nur an den wenigsten Gräbern. Viel häufiger werden Engel dargestellt, die das Grab bewachen, daran trauern oder – und das kommt häufig vor! – Verstorbene in die jenseitige Welt begleiten.

Die Darstellung der Verstorbenen geschieht selten als alte Menschen. Stattdessen werden sie dargestellt, wie sie in der Blüte ihres Lebens aussahen, oder in Ihrer Jugend, und das idealisiert und – nackt. Ja, wirklich: Viele Gräber in den Arkaden sind mit figürlichen Darstellungen der Verstorbenen versehen, so wie sie jung und nackt aussahen.

Eine, die freilich überhaupt nichts vom Posieren ohne Schlübber hielt, war Caterina Campodonico. Die Frau verkaufte Nüsse und Gebäck am Markt in Genua, und Zeit ihre Lebens sparte sie jeden Centesimi für ihren Traum: Sie, die arme Marktfrau, wollte ein prächtiges Grab auf Staglieno. Kurz vor ihrem Tod engagierte sie dann einen der besten Künstler seiner Zeit, und der verewigte sie. Allerdings nicht als junges Ding und barbusig, sondern vom Leben gezeichnet, mit ihren Nussketten und Gebäckkringeln – und voll bekleidet.

“Na, alte Frau?”, sage ich, als ich vor Caterina stehe. Die Figur ist unglaublich detailliert gearbeitet, selbst Hautfalten sind in den Marmor gemeißelt.

Seit meinem letzten Besuch ist die Statue wohl gereinigt worden. Ist mir vorher nicht aufgefallen, dass ihr Kleid zarte Muster hat. Der Carara-Marmor sieht aus wie Samt.

Die Darstellungstiefe hier auf Staglieno ist enorm. Manche Figuren haben sogar aus Stein gehauene Wimpern, an manchen sieht man kleinste Hautfältchen. Aber so ein zartes Muster wie bei Caterina – das habe ich hier noch nicht gesehen.

Superdetailliert: An manchen Figuren ist sogar durchbrochene Strickkleidung zu sehen.

Viele Figuren kenne ich schon, nun bemerke ich Muster in den Werken und die Handschriften der Künstler. Den Bildhauer Orenga erkenne ich sowieso, aber was ich jetzt merke: Sein Konkurrent Vaino kopierte sich gerne und hoffte wohl, dass das bei der Masse an Figuren auf Staglieno niemandem auffiel.

Version 1….
…und Version 2. Ich merke sowas!

Ich wandere durch die großen Hallen und endlosen Gänge von Staglieno. Wie fast immer bin ich fast allein hier, nur alle Stunde begegnet mir mal eine Besucherin oder ein Friedhofsgärtner.

Viele der Statuen drücken Verlust und Trauer auf eine geradezu greifbare Weise aus. Gesichter sind von Schmerz gezeichnet, Körperhaltungen kraftlos und von Gram gebeugt. Selten sind die Werke aber ohne Hoffnung. DAS ist es, was sie so besonders macht. Auf Staglieno wird um die Toten getrauert, aber gleichzeitig das Leben gefeiert. Sowohl das Leben der Verstorbenen, als auch das der Hinterbliebenen.

Staglieno ruft einem zu: Der Tod kam vielleicht überraschend, und ihr seid geschockt und voller Trauer. Dies ist der Platz für Eure Trauer, aber ihr Lebenden, ihr habt den Toten gegenüber eine Pflicht weiter zu leben und nicht in der Trauer zu versinken!

Viele der Gräber sind Meisterwerke der Bildhauerkunst. Wie überraschend der Tod kommen kann, stellt keine Statue besser dar als die der jungen Frau, die eine Bettdecke hebt und erschrickt. Wie schafft man es, ein Gefühl von Sprachlosigkeit in Stein zu bannen?

Romantisch ist auch das Grab des alten Mannes. Er ist gerade verstorben, seine Kinder trauern an seinem Sterbebett. Er auf der Schwelle zum Jenseits, ist nun wieder jung und blickt noch kurz zurück, während er mit seiner bereits verstorbenen Frau Hand in Hand aus der Szene schreitet.

Man sieht recht viele klassische Symbole der Trauer – zerbrochene Säulen, Sanduhren, Schlüssel, Türen, Mohnkapseln und sogar Totenschädel. Religiöse Symbole sind dagegen sehr selten, und Kruzifixe gibt es mal gar nicht. Auch das macht Staglieno so angenehm: Es ist ein Ort für alle, ungeachtet ihrer Religion.

Ich entdecke neue Gallerien, die sich hinter dem zentralen Pantheon langziehen. Im staubigen Sonnenlicht liegt ein bislang unbekannter Gang vor mir, an dessen Wänden sich Grabnischen langziehen und in dessen Mitte Sarkophage stehten. Darauf und daneben sitzen, knien und stehen lebensgroße Figuren. Manchmal sind es Abbildungen der Hinterblieben, wie einer Mutter mit einem Kind, die um ihren Mann trauern. Manchmal sind es Abbilder der Toten. Und manchmal sind es Engel, die wachen, trösten und, in einem Fall, erwecken.

Was ich bislang noch nicht ausgiebig erkundet habe sind die Außengelände. Staglieno besteht auch aus einigen Bergflanken, an denen sich Wege und Wälder entlangziehen. Auch die erkunde ich heute. Steil ziehen sich kleine Wege die Berghänge hoch, und immer wieder mache ich beeindruckende Entdeckungen. In den Wäldern stehen versteckt schöne Statuen und Familienkapellen und -grüfte, von denen einige überaus protzig sind. Sogar eine Nachbildung des Mailänder Doms und eines Wikingerhauses finden sich hier.

Staglieno ist übrigens so groß, dass eine eigene Buslinie hier verkehrt.

Am rührendsten ist diese Statue einer Mutter, die offensichtlich ihr Kind verloren hat. Sie hält die leeren Kleidungsstücke zärtlich im Arm, eine Erinnerung an eine Zukunft, die nie Wirklichkeit wurde.

Auch Skurrilitäten finden sich hier. Neben Siri (RIP) finde ich auch immer wieder Beispiele dafür, wie grausam Eltern bei der Namensgebung sein können. Titta Puppo? Echt jetzt?

Engel gibt es natürlich auch, jede Menge sogar. Der schönste ist der Ribaudo-Engel. Lang hingestreckt liegt sie auf einem ägyptisch anmutenden Sarkophag, eine Hand über die Augen gelegt. Ich liebe diese Figur. 15 Jahre hing sie auf einem Poster in meinem Schlafzimmer, als ein Motiv eines Plattencovers von Joy Division. Ich mochte die Band nie besonders, aber den Engel fand ich schön. Und dann stand ich eines Tages vor ihr, hier, auf Staglieno.

Aber auch die Kolleginnen sind ausgesprochen schön:

Der Marmor macht diese Statue noch besonderer als sie ohnehin schon ist. Der Engel küsst die Person, die offensichtlich Angst hat, und durch die Marmorierung sieht es aus, als gäbe er dabei etwas von sich weiter. Mut? Die Kraft weiter zu machen?

Es gibt auch Todesengel, die mit dem Leben im Kampf liegen. Eine solche Darstellung ist aber eher selten.

Der neuere Teil von Staglieno, im Westen gelegen, gefällt mir nur so mittel.

Auch hier gibt es noch eine Kolonnade mit Figuren vom Anfang des 20. Jahrhunderts, die meisten können aber schon nicht mehr mit der Kunstfertigkeit der älteren Werke mithalten. Und: In der Zeit von 1915 bis 1930 gibt es plötzlich viel mehr religiöse Symbolik. Ob das am Krieg lag? Oder an einem geänderten Zeitgeist?

Gänzlich karg und hässlich ist der nordwestliche Teil des Friedhofs. Hier gibt es neuere Bauten, aber die Gruften wirken nur wie eine Steinausstellung in einem Baumarkt.

Statuen gibt es nur wenige, und die bringen auch keine Aussage mehr mit und sind handwerklich schlechter als alles im alten Teil. Bei vielen Figuren stimmen nicht mal die Proportionen.

Interessant ist der britische Friedhof, der hoch oben am Westhang liegt und an die gefallenen Soldaten der Weltkriege erinnert. Irgendwo hier oben liegt außerdem Oscar Wildes Frau, Mary Constance.

Von hier oben aus hat man einen schönen Blick in das Tal von Genua hinein.

Den halben Tag bin ich in Staglieno rumgewandert. Als ich das Gelände verlasse, bin ich mir sicher, das mich mein Weg eines Tages wieder hier her führen wird. Zu magisch ist dieser Ort, als das ich mich auf immer verabschieden könnte.

Nun entlaste ich meine Füße und steige in den erstbesten Bus der vorbeikommt. Der fährt quer durch die Stadt und kommt am Bahnhof Principe vorbei. Das ist gut, denn in der Straße vor dem Bahnhof liegt nicht nur die Uni, sondern auch die zweitbeste Focacceria, die ich kenne. Focaccia ist eine ligurische Spezialität. Erfunden wurde sie angeblich in Recco, einem kleinen Ort ein paar Kilometer die Küste runter. Die Focaccia ist ein Hefeteig, der mit allerhand Sachen bestreut oder belegt ist. Die klassische Art ist mit Rosmarin und Salz bestreut, aber die Focaccerien heute experimentieren mit allen möglichen Belagen und Saucen und haben die Focaccia zu einer Art Pizza ausgebaut.

Was kaum einer weiß: Focaccia schmeckt scheiße. Der Teig sieht zwar fluffig und weich aus, und der deutsche Gaumen kann förmlihch spüren, wie Zunge und Zähne im weichen, warmen Teig versinken. Die Realität sieht dann aber anders aus: Focaccia ist so hart, dass man damit Nägel in die Wand hauen kann, und sie krümelt und zerplatzt beim Kauen in scharfkantige Teile. Das Zeug ist so trocken, das es beim Essen im Mund immer mehr wird statt weniger.

Die Focaccia bei Theobaldi an der Uni ist zum Glück anders.

Bei den meisten Sorten ist der Teig dünn, und nicht daumendick. Und bei vielen Belagarten sickert Sauce in den Teig und macht ihn weich und saftig. Mehr wie eine Pizza als eine Focaccia. Meist hat Theobaldis drei bis vier Sorten Focaccia, jeden Tag andere. Bestellt wird aus der Auslage, dabei muss man auch sagen wieviel man möchte – am besten zeigt man mit den Händen, wie groß das gewünschte Stück sein soll. Bezahlt wird dann nach Gewicht.

Kurze Zeit später habe ich eine Focaccia “Wurstel”, belegt mit Frankfurter Würstchen. Das schmeckt leckerer als es klingt.

An den Torbogen eines Hinterhofs gelehnt genieße ich das Essen. Dann gucke ich mir die Unigebäude an. Die residieren in alten Palazzi links und rechts der Straße. In den Fakultätsgebäuden sitzt im Foyer stets ein Pförtner und guckt mich grimmig an, aber das zentrale Hörsaalgebäude ist offen. Ich klettere die Treppen des Innenhofs hinauf und denke, dass dieser Anblick vielleicht M.C. Escher inspiriert haben könnte.

Am Ende der Straße liegt eine Kirche, die Basilica della Santinissima Annunziata del Vastato. Ein Bauwerk, das von Außen aussieht, als ob ein römischer Tempel mit einer romanischen Kirche kopuliert. Im Inneren ist alles Gold und edel.

Ein Stückchen weiter führ die Straße in einen gigantischen Tunnel, denn Genua ist überaus dreidimensional. Die Berghänge ragen in die Stadt hinein und sind dicht bebaut. Außerdem sind an manchen Stellen Häuser auf andere Häuser gebaut, und ein Mal sieht es sogar aus, als ob ein Berg auf ein Haus draufgesetzt wurde. Das ist der Grund, weshalb Navigationsgeräte hier weitgehend unbrauchbar sind: Genua findet an vielen Stellen auf mehreren Ebenen übereinander statt.

Die Vertikalität ist teilweise echt krass, weshalb es für die Einwohner auch Zahnradbahnen gibt, oder Fahrstühle. Die kann man mit den Tickets der Stadtwerke nutzen, die auch für Bus & Bahn gelten.

Manche der Fahrstuhlanlagen sind schon alt, das Äußere stammt noch aus den 1880er Jahren.

Der Ausblick vom Casteletto, wo der Fahrstuhl hält, lohnt allemal. Einen besseren Ausblick auf den Hafen hat man nur von Righi, das weiter oben am Berg liegt.

Manche der Autounterführungen haben auch noch Fußgängergewölbe. Mitten in einem der großen Autotunnels steht eine Fußgängerampel, dahinter geht es für Fußgänger in den Berg.

Heraus kommt man aus einer unscheinbaren Tür am Rande der Altstadt.

Es wird schlagartig dunkel, und Für den Rest des Abends nehme ich mir vor, mich in der Altstadt zu verlaufen. Das wird ohnehin passieren, also kann ich es mir auch als Ziel setzen. Dann fühlt es sich am Ende besser an, so nach dem Motto “Ich habe nicht den blassesten Schlimmmer wo ich bin – super, Tagesziel erreicht!!”

Schwer ist das Verlaufen nicht, denn die größte Altstadt Europas besteht nur aus schmalen Gassen. Also, WIRKLICH schmal.

An vielen Stellen sind die nur 1,50 breit, werden dafür aber von Häusern gesäumt, die fünf bis neun Stockwerke hoch sind. Die Folge: Es ist IMMER düster in den Gassen, selbst bei prallem Sonnenschein über der Stadt herrscht hier Zwielicht. Früher war dies einer der verrufensten Orte Europas, aber heute ist die Altstadt weitgehend sauber und nett. Dabei gibt es keine Polizeipräsenz. Was hat sich hier soziokulturell in den letzten 30 Jahren verändert, dass dieses enge Labyrinth so friedlich geworden ist?

Alles her ist supereng und unübersichtlich und dunkel, es gibt kaum Grün, geschweige denn Bäume. Es ist sogar so eng, dass keine Mülltonnen in den Gassen stehen können. Dafür gibt es alle hundert Meter “Müllräume” in den Erdgeschossen der Häuser, die nachts blau beleuchtet sind – damit Fixer ihre Venen nicht finden. Allein diese Umfeld sollte Kirminalität blühen lassen. Warum ist das nicht so?

Die Altstadt ist vor allem eines: Überraschend. Hier mischt sich alles, Menschen ebenso wie Geschäfte und Baustile. An manchen stellen durchdringen sich alte Kirchen und Wohngebäude, und im verglasten Foyer einer Bank hängt Wäsche zum Trockenen aus einem kleinen Natursteinfenster, fünf Meter über dem Boden.

An einer Straßenecke stehen Buchhändler und verkaufen alte Liebesromane aus ihren hölzernen Ständen….

…ein paar Meter weiter wird geradezu liebevoll Gemüse angeboten…

…und zwischen den traditionellen Geschäften gibt Start-Ups junger Leute, die hier genueser Handwerk mit moderner Technik und den Vertriebswegen des Internet kombinieren, wie dem kleinen Laden, der abgefahrene Holzarbeiten per Lasertechnik herstellt.

Dann wieder gehe ich um die nächste Ecke und stehe plötzlich, nur 100 Meter von der Prachtstraße Via Garibaldi mitten in einer Gruppe Prostituierter, die die sich laut lachend unterhalten und auf glitzernden Handies rumtippen. Wieder eine Ecke weiter ist die Gasse mit einem Gitter verschlossen. Die Anwohner hatten keinen Bock auf fremde Leute und haben sie deshalb einfach dichtgemacht. Wer den Schlüssel braucht, soll bei Francesco klingeln, steht auf einem Pappschild.

Wieder eine Gasse weiter machen die Bewohner ein kleines Straßenfest, was in der Enge natürlich eine Stehparty ist. Dieses Unerwartete, das ist es! Diese Erkenntnis trifft mich unvermittelt. Es ist dieses immer wieder Überraschende an einem so seltsamen und ungewöhnlichen Ort. DAS ist es, was Genua interessant macht! Hier überrascht beiläufig die Architektur, die bekannte Elemente ganz eigensinnig einsetzt, aber auch die Menschen und wie sie leben. Und: Sie haben auch das hier alles für sich gemacht, das hier ist nichts für Touristen.

Um diese Erkenntnis reicher laufe ich zurück Richtung San Vincezo, wo Lo Zenzero liegt.

Netflix fährt Werbekampagnen global. Wo sonst für Mode geworben wird, hängt nun “Altered Carbon”. Heute Morgen Goethe, heute Abend Cyberpunk. Genua, statt der Gegensätze.

Kurz vor zu Hause mache ich noch einen Stop in der “Valigeria Genova di Giulio Sanson”. Das Geschäft sieht aus wie ein üblicher Kramladen, in dem billige Chinaware verkauft wird: Die Auslagen sind vollgestopft mit Trolleys, Rucksäcken und Taschen.

Aber weit gefehlt. Das hier ist ein Fachgeschäft für Reisegepäck und -accessoires. Wo man hinguckt gibt es kleine, praktische und überaus hochwertige Reisehelferlein zu entdecken. Kein Fancy-Zeug, sondern ganz normales Alltagskram: Gürteltaschen, Reisetaschen, Packwürfel, Regenschirme. Was man hier kaufen kann, ist fast alles in Italien oder Europa produziert und sorgfältig von der Familie Sanson, die den Laden betreibt, ausgesucht. Alles hier ist Qualitätsware. Kostet kaum mehr als der Chinakram, aber die Taschen scheuern nicht bei der zweite Benutzung durch, Reißverschlüsse fallen nicht beim ersten Angucken auseinander und die Taschenschirme halten mehr als nur einen Windstoß aus.

Ich kaufe hier einen winzigkleinen Regenschirm von H.Due.O. Ist schon der zweite, den ich hier erstehe. Der erste, den ich 2015 hier gekauft habe, wiegt gerade 100 Gramm, passt in eine Hosentasche und hat schon Novemberwind an der Hamburger Außenalster ausgehalten. Boah, was bin ich weltmännisch: Ich kaufe meine Krawatten in Florenz, meine Regenschirme in Genua und meine Schuhe bei Reno in Northeim.

Dazu erstehe ich gleich noch eine kleine Tasche, die eigentlich eine Kameratasche sein will, aber meinen neue Kulturtasche wird. In die passt dann auch die elektrische Reisezahnbürste.

Glücklich über soviel Shoppingbefriedigung kehre ich ins Appartment zurück und komme dabei an diesem Grafitti vorbei:

War ein langer und überaus toller Tag in Genua, morgen geht´s nach Außerhalb.

Tour des Tages: Im Norden liegt Staglieno, im Westen die Altstadt, in der der Tracker nicht wirklich funktioniert. Rund 23 Kilometer bin ich gelaufen.

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7 Gedanken zu „Reisetagebuch Städtetour (4): Goethe vs. Altered Carbon oder “Wer fremde Sprachen nicht kennt…”

  1. Ein interessanter und spannender Ort. Danke für den virtuellen Rundgang.
    Es gibt so vieles auf meine Liste, vielleicht sollte ich das auch noch drauf setzen, aber irgendwann wird dann leider die Zeit fehlen.

  2. Ok nachdem ich mich letztens schon auf Twitter davon überzeugen lassen musste, dass Venedig vielleicht noch einen Versuch gut hätte und Genua nach dieser Beschreibung (Danke dafür!) definitiv auch auf die Liste wandert, muss ich wohl doch mal Planungen anstellen, wie ich meine eigene V-Strom mal über die Alpen jagen könnte
    Danke auch für den Tipp, sich das Verlaufen direkt als Ziel zu setzen 😉

  3. Max, Hirrnwirr und Stephan: Man immer los! Zu meinem Appartement in Genua gehört auch eine Garage. Brauchte ich bei der Reise im Februar nicht, aber da steht eine Bonzenschleuder oder eine V-Strom absolut sicher 🙂

    Zwerch: Genua ohne Staglieno geht nicht 🙂

    Sandukus: Sehr gerne!

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