Die Sommerreise mit der Renaissance.
Samstag, 18. Juni 2016, Siena
Rund 200 Kilometer westlich von Siena liegt der Ort Genga. Das ist schon lange nicht mehr Toskana, sondern die Marken. Die Marken sind eine winzigen Provinz, die zu Unrecht niemand kennt. In einigen Monaten werden die Marken traurige Berühmtheit erlangen, denn dann werden Erdbeben die Region verwüsten. Aber im Moment ist Juni, und jetzt sind die Marken noch voller Schönheit.
Die Region hat alles: Meer und Berge, grüne Hügel und felsige Täler. Hier liegt die auch die Gola del Furlo, der tiefe Felseinschnitt mit der kurvigen Einbahnstraße, und die Frassassihöhle, die ich 2013 schon besucht und dort Carlo und sein Regenbogenhaus kennengelernt habe. Hätte ich damals schon gewusst, was ich jetzt weiß, hätte ich mir den erneuten Weg hierher sparen können. So muss ich wieder fast drei Stunden hier her holpern.
Ja wirklich, holpern: Der Weg führt durch Umbrien, und dort sind die Straßen legendär schlecht. Erst als es in die Marken geht, werden die Landstraßen im Schatten der sie säumenden Bäume und Prostituierte wieder besser. Italien ist wirklich manchmal seltsam. Prostitution ist erlaubt, aber Bordelle verboten. Als Folge stehen mancherorts, auch in Gottverlassen wirkendenen Gegenden, an jedem Feldweg eine Dame mit käuflicher Zuneigung. Aber wie gehen die ihrem Gewerbe eigentlich nach? Haben die irgendwo im Gebüsch eine Matratze liegen? Oder wird das alles im Stehen abgehandelt? Ach, eigentlich will ich das gar nicht wissen.

Die Sonne glüht vom Himmel, als ich die Renaissance auf einem kleinen Parkplatz in der Frassassi-Schlucht abstelle. Links und rechts erheben sich steil die Felswände. Der Parkplatz heisst „Presepio Vivente“ – Die Wiege des Lebens. Hä?
Auf dem Parkplatz stehen alte Leute Schlange vor einer Felswand. Zumindest sieht es auf den ersten Blick so aus. Tatsächlich ist in der Felswand ein Wasserhahn, aus dem frisches, kaltes Bergwasser sprudelt. Die alten Leute zapfen es in mitgebrachte Flaschen und Kanister ab. Muss wohl Heilwasser sein, was auch den Namen des Parkplatzes erklärt. An der Felswand hängt ein Schild: Es ist verboten, mehr als 20 Liter pro Person und Tag zu zapfen, steht da auf italienisch. Ich grinse amüsiert, dann mache ich mich an den Aufstieg. Neben der Quelle beginnt ein breiter Weg, der mit Natursteinen gepflastert ist.
Steil wie eine Treppe zieht er sich an der Felswand empor. Ich habe das Gefühl gegen ein Vielfaches der normalen Schwerkraft anzulaufen, komme mir vor wie ein Astronaut auf einem Planeten mit zu hoher Dichte oder ein Taucher unter Wasser. Bewegung scheint nur in Zeitlupe möglich. Kein Wunder, der Weg ist steil, es ist mit über 35 Grad irre heiß, und was auch nicht vergessen werden darf: Ich trage Motorradklamotten. Der Fahreranzug mit den Protektoren, die Stiefel, dazu noch der Jackeninhalt… Zu Hause habe ich mal nachgewogen: Ich trage rund 7,5 Kilo an Klamotten am Körper. Und in dieser Montur klettere ich auf Berge und Türme oder gehe wandern. Zum Vergleich: normale Kleidung mit Jeans, Hemd und Sneakers kommt auf rund 1,5 Kilo.
Immer wieder halte ich kurz Inne um zu verschnaufen und dabei die Landschaft zu bewundern. Schroff ragen die Felswände auf, weit unten schlängelt sich die Straße entlang.
Lang ist der Weg auch, erst nach einer halben Stunde geht er wieder in die Horizontale über. Er endet an einem Tor im Fels. Es ist offen.
Als ich hindurchtrete, öffnet sich der Weg zu einer breiten Plattform, die aber nur der Rand von einer großen, natürlich Öffnung in der Felswand ist. Fast 20 Meter hoch und 70 Meter tief muss die Höhle sein, und in ihr… steht ein Gebäude. Der Tempio del Valadier.
Es handelt sich um eine Kirche. Eine achteckige Kirche mit einem Bleidach, die im Eingang der riesigen Höhle steht. Das sieht unwirklich aus, wie aus einem Fantasyfilm entsprungen.
An der Seite der Felswand führt ein Weg in den Berg. Folgt man dem, dann kommt man in der großen Höhle hinter dem Tempel raus.
Der Tempel wurde 1828 in diese Grotte gebaut. Die Entwürfe dafür hat der Architekt Giuseppe Valadier gemacht, daher der Name. Valadier war eigentlich Stadtplaner in Rom, von ihm stammt unter anderem die Piazza del Popolo. Beauftragt wurde das Ganze von Papst Leo XII. Aber warum gerade hier, und warum in dieser Höhle?
Ganz einfach: Die Höhle war über die Jahrhunderte immer wieder Schutz und Versteck für die Bevölkerung aus dem Umkreis. Immer, wenn mal wieder Eroberer marodierend durch die Gegend zogen, versteckten sich die Menschen von Genga in der Höhle und beteten, dass die Eindringlinge wieder verschwanden. Aufgrund der vielen Beterei, und weil das mit dem Verstecken immer so gut klappte, galt die Höhle den Menschen von Genga bald als heiliger Ort. Und der richtige Name von Papst Leo lautete: Hannibal von Genga! Er wollte den heiligen Ort würdigen, indem er von seinem Stararchitekten ein Bauwerk mitten rein pflanzen ließ.
Im Inneren ist der Tempel ganz schlicht ausgestattet.
Neben dem Tempel steht noch eine winzige Kapelle, eine Einsiedelei mit dem Namen Santa Maria Infra Saxa.
Wieder beim Motorrad angekommen stille ich erst einmal meinen Durst. Die Hitze setzt mir nicht besonders zu, aber trinken ist immer gut, und die Renaissance führt zwei Liter Trinkwasser mit. Als ich das Topcase schließe, quietscht der Gepäckträger. Hä? Wieso quietscht der? Ich sehe mir das genauer an: Auf der rechten Seite steht eine der tragenden Schrauben weit heraus.
Aber warum? Hat Fabio die vergessen festzuziehen? Ich öffne die Sitzbank und suche den passenden Imbusschlüssel raus, dann ziehe ich alle Schrauben nach. Unschöne Entdeckung dabei: Auf der rechten Seite hat eine wichtige Schraube wohl das Gewinde am Motorrad zerbissen, die lässt sich nicht festdrehen. Meine Laune sinkt. Die ist eh stark vom Zustand des fahrbaren Untersatzes abhängig, und das nun tragende Teile kaputt gehen, dämpft meine Stimmung doch sehr.
Zurück geht es wieder über die schedderigen Straßen Umbriens. Selbst die Autobahnen hier sind eine Frechheit, an manchen Stellen sieht es aus, als habe ein LKW über Kilometer einfach Teer verloren, von dem sich mancher in Haufen festgefahren hat, anderer liegt in Brocken in Kurven und am Straßenrand. Das Motorrad scheppert und kracht über diese Buckelpiste, sackt immer wieder in Kuhlen weg oder springt über Hügel in die Luft. Die Maschine tut mir leid, aber mehr als langsam fahren und möglichst um die größten Brocken rummanövrieren kann ich nicht.
Als Umbrien in die Toskana übergeht, wird es schlagartig besser. Aber was ist das? Das Motorrad gibt ein Klingeln von sich, wenn es jetzt über Unebenheiten fährt. Als wäre irgendwo eine Schelle abgegangen und nun klingelt, wenn sie irgendwo anschlägt. Das fehlt mir noch, das jetzt ein Kühlschlauch die Biege macht oder ein Lufteinlass abreißt. Ich halte an und untersuche das Fahrwerk und alles, was ich vom Motor sehen kann. Viel ist das nicht, die Maschine hat eine Vollverkleidung. Nichts zu sehen, alles scheint fest zu sein.
Ascoli ist scheiße? Hoffentlich ist das kein Ohmen. Da will ich nämlich noch hin. Zum Glück bin ich als Wassermann nicht abergläubisch.
Klingel.
klingel.
Klingel-Klingel-Klingel.
Wenn das so weitergeht werde ich WAHNSINNIG.
Meine Laune ist im Keller. Plötzlich fühle ich mich sehr allein und sehr weit weg von zuhause. Solche Tage kenne ich von früheren Reisen. Ich komme gut lange alleine klar, aber wenn ich mich hilflos fühle, dann setzt mir das zu. Und nicht lokalisierbare und möglicherweise gravierende Fahrzeugprobleme lösen das Gefühl von Hilflosigkeit aus.
Ich bin melancholisch und unzufrieden. Nicht mal der Besuch in Monteriggioni vermag meine Laune zu verbessern, und von Siena nehme ich nicht mal wirklich Abschied. Ist noch nicht der letzte Abend, aber morgen soll es regnen, also sehe ich die Stadt jetzt mindestens ein Jahr nicht mehr wieder.
Kleiner Lichtblick ist Bruno, der Wirt. Nachdem ich mich an einer unfassbar schlechten „Super Pizza 900“ fast überfressen habe, kann er nicht rausgeben kann und verabschiedet sich mit den Worten „Ok, einen Euro gibst Du mir dann im nächsten Jahr“. OK, ich muss also wiederkommen, immerhin habe ich jetzt in Siena Schulden. Witzig, das Bruno den jährlichen Abstecher nach Siena schon als gesetzt annimmt. Aber hey, er hat ja recht.
Pizza Super900 – bitte nur probieren, wenn man am Verhungern ist und es ansonsten gar nichts mehr zu essen gibt. Und das Hundefutter alle ist. Und man schon das Moos aus der Fensterritze verspeist hat.
Im nächsten Teil: Der Riese am Teich und die Karawane der toten Ritter
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Warum dachtest du dass diese Pizza eine gute Idee ist? Abenteuerlust?
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Wer als Pizzabäcker solche Pizzen serviert, hat die Kontrolle über seinen Backofen verloren… 😉
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