
Sommertour mit der V-Strom durch Frankreich, England, Wales und Schottland. Heute: Unbekannte Orte mit coolen Namen, Orte mit bekannten Namen, die niemand kennt, dem Killerkarnickel und Cops.
Freitag, 08. Juli 2022, Bower House Inn, Eskdale, England
„Darf ich mich zu ihnen setzen?“, fragt Martin, der Radfahrer mit dem schlechten Englisch von gestern Abend. Er steht direkt vor dem kleinen Frühstückstisch, an dem ich sitze.
„Nee“, sage ich, meine das auch so und schüttele zur Bekräftigung den Kopf. „Nehmen sie bitte am Nebentisch Platz, wenn es Ihnen nichts ausmacht.“ – ich bin gnadenlos, ich weiß. Aber Covid kann ich echt nicht brauchen, und Martin macht die Abfuhr nichts aus.
Er setzt sich an einen anderen Tisch und beginnt zu reden und hört nicht mehr auf. Wirklich, er hat das Quasselwasser nicht nur getrunken, es fließt geradezu durch seine Adern. Er erzählt davon, das er ja gestern auch über den Hardknott gekommen ist. Hinauf ist er allerdings nicht gefahren, er hat geschoben. Da hätte ich es ja einfacher, mit dem Motorrad, haha. Ja und das Wetter, damit hätten wir ja Glück, sei ja gerade recht gut. Und generell müsse man sich ja freuen, Nordengland sei ja gerade recht hübsch, und er könne es kaum erwarten weiter in den Norden von England zu fahren, nach Glasgow und in die Highlands und so.
Interessant, er benutzt „Nordengland“ wirklich als Synonym für Schottland. Hoffentlich macht er das nicht vor Ort, sonst wird er vermutlich verhauen.
Die Bedienung steckt kurz den Kopf zur Tür des plüschigen Frühstücksraums herein und schüttelt den Kopf – da unterhalten sich zwei Deutsche, sitzen sich gegenüber, aber an verschiedenen Tischen. Ts.
Was macht der nur beruflich?, rätsele ich, während Martin seinen Monolog weiterführt. Alles an ihm schreit „Manager“, aber das liegt vielleicht nur an der trainierten Anzugfigur und dem markanten Kinn, mit dem er aussieht wie Dr. Udo Brömme. Aber das gut formulierte, ausschweifende und umständliche Reden, das leicht Unfokussierte und das Nachdenken darüber, was man sagen möchte, während man schon redet, lässt einen Professor der Hist. Phil vermuten. Vielleicht Politiker? Das lässt mir keine Ruhe, und ich muss nachfragen. Martin gibt bereitwillig Auskunft. Tatsächlich ist er Ingenieur bei der Stadt Köln. OK, DAS hatte ich im Leben nicht gedacht.
„…Naja jedenfalls steht mein Auto jetzt in Rotterdam und ich radele hier so. Alleine. Von meinen Freunden wollte niemand hier nach Nordengland. Die haben gesagt: Nordengland, das ist schlechtes Essen, schlechtes Wetter…“
„…und schlechte Unterkünfte“, ergänze ich und er nickt und ruft „Ganz genau!“.

Genau das hatte ich im Vorfeld und nach einigen Recherchen auch gedacht. Wetter meist mies, Essen eine zerkochte und vitaminlose Zumutung, und über Netz buchbare Unterkünfte sind oft entweder schlecht oder sehr teuer, meist beides. Kein Witz. Ich habe im Februar eine geschlagene Woche gebraucht, um halbwegs bezahlbare Unterkünfte bei Booking.com und Google für diese Tour zu finden.
Dabei habe ich Dinge gesehen… also wirklich, ich wusste nicht, das Booking Bewertungen von 1.0 tatsächlich anzeigt, alles unter 8.0 ist eigentlich schon nicht empfehlenswert. Und die Preise… Sagen wir mal so: Was auf Booking.com in Großbritannien im Mittel als Übernachtungszimmer in einem B&B oder einem kleinen Hotel angeboten wird, ist ein Winzzimmer mit acht Quadratmetern, schimmeligen Fensterrahmen und kaputter Dusche zu einem Preis von 140-180 Euro pro Nacht, Frühstück kostet extra. Für das Geld übernachte ich in Italien vier Mal wie ein König!
Am Ende der Februarrecherche stand die Erkenntnis: Ich muss Tour verkürzen. Eigentlich hätte ich gerne drei Wochen durch England, Wales und Schottland fahren und auch mal ein paar Tage an einem Ort bleiben wollen. Aber das ist schlicht so teuer, das will ich mir nicht leisten. Deshalb bin ich jetzt nur 10 Tage hier unterwegs, und das ist auch der Grund, warum ich quer durchs Land hetze und nirgends länger als eine Nacht bleibe. Ich will möglichst viel sehen, in möglichst kurzer Zeit.
Im Vorfeld hatten mir mehrere Leute gesagt: Mach Dir doch nicht so einen Kopf! Also WIR sind damals ganz spontan losgefahren und haben dann abends einfach in irgendeinem Ort im Pub nach einer Übernachtungsmöglichkeit gefragt und immer irgendwie ein Zimmerchen bei einer netten alten Dame oder so gekriegt!.
Hmja. Stellte sich auf Nachfrage aber raus: „Damals“, das war, je nach Person, in den 90ern oder sogar den 70ern. „Damals“ ist mit heute nicht mehr zu vergleichen, denn seit „damals“ hat der Tourismus stark zugenommen, hat das flächendeckende Pubsterben begonnen und die netten alten Damen mit den kleinen Pensionen sind zu einem guten Teil ebenfalls den Weg alles irdischen gegangen.
Gastfreundliche alte Damen sind kein unbegrenzt nachwachsender Rohstoff, zumal wenn ihre Cottages auf dem Land von den Erben an Fondfinanzierte Investitionsunternehmen verkauft werden, die die Häuschen dann luxussanieren und als Ferienhaus an Stadtleute auf Selbstfindungstrip vermieten. Bei verbliebenen Pubs und Inns ist das ähnlich, wenn sie keinen Nachpächter finden – und das wird immer schwerer – machen sie dicht oder werden an einen Investor verkauft und damit Teil einer Kette. Der erste Inn, in dem ich übernachtet habe, der George Inn in Middle Wallop, das ist auch so einer. Buchbar über die Website eines Londoner Unternehmens, hinter dem eine Holding steckt.
Kurze Rede, langer Sinn: Ohne Reservierung kann es also jetzt, im Juli, schwierig werden eine spontane Übernachtungsmöglichkeit zu finden – die vielen „No Vacancies“-Schilder an den kleinen Hotels in den Orten, durch die ich bislang gefahren bin, sprechen da eine deutliche Sprache.
Perlen wie den Bowers House Inn, in dem ich gerade bin, gibt es aber immer noch, und man findet sie auch über das Netz, wenn man tief genug gräbt. Das hier und auch meine anderen Unterkünfte zu finden und dann alle mit einer Rundtour zu verbinden war aber nicht einfach. Ich habe echt eine ganze Urlaubswoche von morgens bis Abends an Recherche und Routenplanung gesessen, so lange wie noch nie zuvor.
Nach dem Frühstück packe ich zusammen. Draußen hängen Wolken an den Bergen und es regnet Niesel, aber das wird nicht lange so bleiben, zeigt Annas Regenradar.

Trotzdem steige ich in die Regenkombi. So etwas hat Martin nicht, der mit einem Spandexleibchen ins Nasse startet. Er will bis an die Nordküste von Schottland. Bin gespannt ob er das durchzieht. Vielleicht erfahre ich es, wir haben festgestellt, dass wir beide die selbe Fähre zurück nach Europa nehmen werden. Ich winke, als ich vom Hof fahre.
Ich lenke die V-Strom wieder auf die kleine Dorfstraße, auf der wir gestern vom Hardknott Pass gekommen sind, und fahre die weiter in Richtung Küste, weg von den Bergen.
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