Reisetagebuch MaGenTu (7): Hinter Gittern
Städtehopping im Januar. Nach Mailand und Genua geht es heute nach Turin, wo ich hinter Gittern lande
und einen Flugzeugträger mitten in der Stadt entdecke.
Donnerstag, 12. Februar 2015, Genua
Die Morgensonne wirft ein warmes Licht auf Genua, als ich vor das Hotel und auf die Viale Sauli hinaustrete. Hunderte Pendler eilen mir vom Bahnhof entgegen. Zum Glück habe ich es nicht eilig. Mein Zug fährt erst in einer Stunde, und so kann ich ganz in Ruhe in einer Bar einen Caffé trinken, ein Cornetto verputzen und dann weiter zur Metro schlendern. Mittlerweile kenne ich die U-Bahn auswendig. Kunststück, es gibt nur eine Linie mit acht Haltestellen.
Am Bahnhof Principe steige wartet schon ein alter Intercity. Als der Zug aus dem halbunterirdischen Bahnhof ausfährt, sich dann über die Hochbrücke in die Lüfte schwingt und schließlich im Tunnel des Bergmassivs verschwindet, blicke ich den Sonnenstrahlen und den warmen Farben Genuas ein wenig traurig hinterher.
Ciao, Genova, e grazie per tutti!
Ich weiß warum ich dem so hinterhertrauere. Genua liegt weit ausgebreitet an der ligurischen Küste, auf einem schmalen Streifen zwischen Meer und der ligurischen Bergkette. Die Berge halten die Kälte aus dem Landesinneren und von den Alpen ab, weshalb es in Genua meist wärmer ist als sonstwo in Italien. Als der Zug aus den ersten Tunneln heraus ist, wird es bereits merklich kühler. In den Schattenlagen liegt verharschter Schnee – jene Art von Schnee, der mit einer dicken Eiskruste überzogen ist. Sowas bekommt man, wenn es zwar kalt ist, die Sonne aber intensiv scheint.
Bei Alessandria bleiben die Berge zurück und weichen dem platten Land des Piemont. Auf den Äckern steht das Wasser, überzogen mit einer Eisschicht. Bei Asti wird es nebelig, und die Welt verliert den letzten Rest Farbe. Alles ist kalt und grau, die wenigen Wälder tauchen wie Gespenster auf und sind schnell wieder verschwunden. In Genua waren es heute Morgen 9 Grad plus und Sonne, in Turin sind es 4 Grad MINUS und klammer Nebel. Was für ein Unterschied!
Nach weniger als zwei Stunden kommt der Zug in Turin an. Die Gepäckaufbewahrung an Gleis 1 finde ich sofort und lasse dort den großen Rucksack zurück. Das kleine Daypack mit allem Wichtigen und Wertvollen behalte ich und ziehe los.
Turin macht es mir nicht einfach. Zuerst frage ich in verschiedenen Edicolas, Zeitschriftenläden, nach einem Giornaliero, einem Tagesticket für Bus und Bahn. Nein, wird mir gesagt, leider ausverkauft. Dann versuche ich es an den Automaten, habe aber auch dort kein Glück. Lediglich Einfache Fahrkarten gibt es zu kaufen. Die sind 90 Minuten gültig, aber nur für eine Fahrt mit der Metro. Ich seufze. Autostädte sind nie einfach. Die sind ganz nach den Wünschen ihrer Besitzer gebaut, und das heißt im Fall von Turin: Hier hat Familie Agnelli das sagen, den Besitzern von Fiat. In Turin geht der Autoverkehr über alles, während die Nutzung des ÖPNV so krude und schwierig wie möglich gemacht wird.
Die Theorie scheint sich zu bestätigen, als ich in Bus 68 sitze, der bizzare Muster durch die Stadt kurvt. Die Stoßdämpfer sind so kaputt, dass jeder Stein des Kopfsteinpflasters zu spüren ist. Auf dem Handy was lesen? Unmöglich. Ich überlege, wieviele Leute in diesen Bussen wohl schon Plomben verloren haben. Es fühlt sich so an, als ob man auf einer Rüttelplatte sitzt, die auf Stufe 11 eingestellt ist. Eine Informationsanzeige oder -ansage, wo wir uns gerade befinden, gibt es nicht. Ich bin froh, dass die Navigon-App, die ihren Wert schon dutzende Male unter Beweis gestellt hat, auch Infos über Busverbindungen mitbringt und mir anzeigt, wo ich aussteigen muss.
Schließlich stehe ich in Sassi, einem Vorort von Turin, vor einem kleinen Bahnhof. Ich kaufe ein Ticket an einem Automaten und bin erst einmal verwirrt. Es gibt fünf Drehkreuze zum Bahnsteig, aber nur an einem steht “Automatentickets NUR HIER!”. Aber in den Schlitz des Automaten passt mein Ticket gar nicht rein.
Etwas unentschlossen dödele ich in der Gegend rum. Die Bahn ist eh noch nicht da, ist also egal. Außer mir ist auch niemand hier, ich bin ganz allein in dem kleinen Bahnhof. Ich finde den Fahrplanaushang, der ein Meisterstück italienischer Bürokratie ist: So kompliziert und mit so vielen Ausnahmen von der Regel und so vielen Ausnahmen die in die Regel inkludiert sind, dass wirklich keine Sau mehr durchsteigt.
Nach längerem Studium und Konsultation des Wörterbuchs bin ich mir sicher, dass die nächste Bahn um 13.00 Uhr fährt. Mist. Es ist erst kurz nach 12, und etwas unentschlossen laufe ich in kleinen Runden über den Bahnhofsvorplatz. Ein Lichtblick: Ich entdecke ein weiteres Drehkreuz, in das mein Ticket auch passt. Wunderbar, kann ich mich auf die Bank am Bahnsteig setzen und dort warten.
Ich schiebe das Ticket in den Schlitz, eine Lampe leuchtet grün, und ich kann durch das Drehkreuz treten. Und stecke fest. Einen halben Meter hinter dem Drehkreuz ist eine schmiedeeieserne Gittertür, und das ist, unerwarteterweise, verschlossen. Wer bitte verschließt eine Tür, die direkt hinter einem Drehkreuz ist?
Ich seufze und blicke auf die Uhr. Noch 45 Minuten. Ich könnte zwar problemlos über das Drehkreuz klettern, müsste dann aber später einem “ich bin der Herr über Leben und Tod”-Schaffner erklären, weshalb mein Ticket bereits ungültig gestempelt ist, wenn ich das wieder durch will. Ich seufze nochmal und ziehe das Buch* aus der Tasche. Sieht so aus, als würde ich 45 Minuten zwischen Drehkreuz und Gitter feststecken, und das bei Temperaturen um die 5 Grad. Kein Spaß.
Endlich, um kurz vor 13 Uhr, kommt die Bahn eingeschwebt. Es ist eine ganz besondere Bahn, eine kleine Zahnradbahn, die gerade mal aus einem Wagen besteht.
Die ankommenden Fahrgäste steigen aus, dann nähert sich ein schlacksiger Mann dem Gitter, hinter dem ich festsitze. “Sie wissen aber schon, dass die nächste Bahn erst in einer Stunde fährt?”, fragt er mich und lässt mich über die Nottaste aus meinen Gefängnis frei.
Ich bin etwas verärgert und suche nach einem anderen Weg auf den Berggipfel, aber heute fährt der Hilfsbus nicht. Ich überlege zu Fuß zu gehen und marschiere los, stelle aber nach einem Kilometer fest, dass in Turin selbst “Rundwege” nicht für Menschen, sondern nur für Autos gemacht sind. Der Fußweg wird erst zu ungeteerter Matschepampe, dann hört er ganz auf. Auf einer engen Bergstraße will ich nicht zu Fuß rumlaufen, also kehre ich um und warte doch noch eine Stunde in der Kälte.
Endlich geht es mit der Furniculare, der Zahnradbahn, los. Natürlich nicht pünktlich, den in der Minute der Abfahrt kommt eine Gruppe älterer Damen angewackelt, die erst noch Karten kaufen müssen. Als die drei an Bord sind, geht es los.
Der kleine Wagen ist was ganz aus Holz und aus dem Jahr 1880. Er hat vorne und hinten eine Fahrerkabine, und ein alter Mann zeigt mir einen erstaunlichen Trick: Mit einem Handgriff lässt sich die Lehne der Holzbänke für die Passagiere so umstellen, dass man in Fahtrichtung sitzt. Was für ein cooles Konzept!
Die Bahn klettert den steilen Berg hinauf, fährt durch mehrere Tunnels und Biegungen und erreicht rasch die Schneegrenze.
Schon auf halber Strecke ist der Blick auf Turin spektakulär. Als die Bahn das Ziel erreicht hat, ist es allerdings vorbei mit dem Spektakulärem. Der Tag ist zu dunstig, als das man aus fast 700 Metern Höhe mehr als Grau sehen könnte.
Schade, die Aussicht ist ein Grund hier hoch zu kommen. Der andere ist die Superga, eine Barockkirche, die von hier oben aus Turin überblickt. Sie ist für zwei Dinge bekannt: 1. Als Wallfahrtskirche, 2. Als Lagerort für tote Savoyer und 3. Weil mal ein Flugzeug an einem Nebengebäude zerschellte, das zufällig den gesamten Fußballclub Juventus Turin an Bord hatte. OK, drei Dinge. Die Superga ist für drei Dinge bekannt.
Leider ist die verschlossen, ebenso wie das Museum mit den Savoyengräbern, das im Winter nur nach Voranmeldung von Gruppen öffnet. Man, Turin macht es mir echt nicht leicht. Ich blicke auf die Uhr. Die Zahnradbahn fährt erst in einer Stunde wieder nach unten. Was soll ich hier so lange machen? Grimmig stapfe ich einen Verharschten Weg an der Seite der Kirche entlang. Interessant… die Barockkirche ist nur von vorne so prächtig, nach hinten raus ist sie nicht fertig gebaut und sogar verfallen. Als hätte man den Flugzeugeinschlag ins Klostergebäude nie repariert.
In Gedanken versunken laufe ich den Weg entlang, als es mit auf dem vereisten Schnee die Füße weghaut. Ich ziehe instinktiv den Kopf auf die Brust und fange den Fall ab. Fluchend rappele ich mich wieder hoch, muss aber gleichzeitig ein wenig grinsen. Ein Sturz, das ist mir schon seit Jahren nicht passiert.
Aus der Rückseite der Kirche befindet sich das Denkmal für die Mannschaft von Juventus Turin aus dem Jahr 1949. Die Jungs haben damals alles gewonnen was es gab, quasi der FC Bayern von Italien. Und dann flog ihr Flugzeug in das Klostergebäude der Superga und die ganze Mannschaft war weg. Einfach so.
Irgendwann wird die Kirche doch noch aufgemacht, und naja, es ist halt eine Barockkirche. Ich mag den Stil ja nicht, zu viel Klimbim, zu viele Schnörkel und vor allem zu viele dicke, nackte Kinder.
Schneller Vorlauf: Wieder warten, dann Talabwärts mit der Zahnradbahn, mit der Rüttelplatte quer durch Turin, mit der Metro bis zum Lingotto.
Der Lingotto, das ist die alte Fabrik von Fiat. Die ist 1992 umgestaltet worden von… Renzo Piano! Der Architekt verfolgt mich wirklich überall hin. Er machte aus dem Lingotto ein Einkaufszentrum, bei dem aber wesentliche Teile der Fabrik erhalten blieben. Zum Beispiel die Rampen, mit denen Autos nach oben, auf´s Dach, gefahren wurden.
Warum sollte man Autos auf´s Dach fahren wollen? Ganz einfach: Weil dort oben, quasi mitten in Turin, die Testrecke von Fiat war! Heute befindet sich auf dem Dach des Lingotto die private Pinakothek der Familie Agnelli. Für die 10 Euro Eintritt gibt es aber heute nicht viel zu sehen. Die Pinaktothek besteht nur aus zwei Räumen. Im unteren ist gerade eine moderne Designausstellung zu sehen, aber mit Exponaten, die ich als trivial erachte – ein Ivar-Regal habe ich auch zu Hause rumstehen, kaputte Festplatten und Kochlöffeln auch. Vermutlich kann man hier Stunden verbringen, wenn man dem Audioguide lauscht, auf dem sich der Künstler ausführliche Gedanken über Kochlöffeldesign macht, aber seien wir mal ehrlich: Das ist intellektuelle Onanie.
Im oberen Raum gibt es exakt sechs Bilder. Die sind sogar ganz hübsch, Stadtansichten von von Venedig, gemalt von Canaletto. Der Rest des Raumes wird gerade umgebaut. Ich wäre jetzt ja fast enttäuscht, wenn ich nicht für was anderes hier hoch gekommen wäre.
Aus der Pinakothek heraus kann man nämlich auf das Dach des Lingotto und damit raus auf die ehemalige Teststrecke! Ich habe keine Ahnung wer auf die Idee gekommen ist, sechs Stockwerke über der Erde einen Rundkurs zu bauen, aber es gibt sie.
Als ich über den Asphalt gehe, fühlt sich das ein wenig an, als ob ich auf der Startbahn eines Flugzeugträgers wäre. Das langgezogene Haus ist wie ein Schiff, und die Pinakothek ragt wie ein Kontrollturm über die Piste. Ihr gegenüber, am anderen Ende des langgezogenen “O”, ragt ein Helipad und eine Kugel mit einem Warteraum für Hubschrauberpassagiere in den Himmel, wie eine merkwürdige Blumenknospe. Die gläserne Kugel ist innen mit weichen Ledersofas ausgestattet, und das Ganze wirkt wie aus einem Bond-Film. Es fällt leicht, sich vorzustellen, wie Hostessen in 60er-Jahre Kostümchen den erlauchten Agnellis Drinks servieren, während die darauf warten, das der Chauffeur den Hubschrauber vorfliegt. Der Lingotto ist die Keimzelle von Turin, sagt man, und das hier oben, das ist das Kommandozentrum, von dem aus die Agnellis die Stadt kontrollierten.
Eine fahle Wintersonne versinkt langsam im Dunst über der Großstadt. Ich schlendere noch ein wenig durch das Einkaufszentrum im Lingotto, das ebenso beliebig wie egal ist, dann besuche ich das Eatalys gleich nebenan. Eataly ist eine Kette, die in großen Kaufhäusern italienische Spezialitäten anbietet.
Später löse ich am Bahnhof den Rucksack aus und mache mich auf den Weg ins Hotel.
Das Hotel “Amadeus” liegt einfach nur perfekt. Es ist umgeben von kleinen Geschäften und Restaurants, gegenüber ist ein Café und eine Paninothek, und bis zum zentralen Platz von Turin und der Mole Antonelliana sind es gerade mal 3 Minuten. Und es wird noch besser: Erst denke ich, ich bin im verkehrten Hotel – Alles hier ist so makellos und perfekt, das Personal so gut geschult und agil, dass ich vermute in einem 5 Sterne-Haus gelandet zu sein. Nein, ich bin hier schon richtig, dass ist mein Low-Budget-Hotel – aber alles hier spricht eine andere Sprache. Das Zimmer von Hand in dezenten Farben ausgemalt, die Möbel sind Maßanfertigungen aus edlem Holz. Die Heizung funktioniert. Die Fenster sind so dick, dass man von der Straße nichts hört. Das Bad hat eine Ganzkörperdusche mit Massagedüsen. Das WLAN ist irrsinnig schnell.
Ich habe ganz allgemein ein gutes Händchen für schöne und günstige Unterkünfte (im Schnitt kostetet mich jede Übernachtung 38 Euro), aber das hier, das toppt alles auf dieser Reise. Mailand war nett, freundliches Personal und großes Zimmer, aber gammelige Dusche und vor allem: Es war kalt und gab kein WLAN. Genua war modern und professionell, aber auch spartanisch – eben nur das, was man als Budgetreisender braucht. Aber das hier… das ist purer Luxus.
Ich mache noch eine kurzen Ausflug in die Stadt, aber vom Fluss und den Bergen her rollt die Kälte in die Stadt, und lange macht es mir keinen Spaß durch die feuchte Kälte zu laufen.
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* Sprich: Den Kindle. So unendlich praktisch, gerade auf Reisen. Daher denke ich von ihm gerne nur als “DAS BUCH” mit dem gedanklichen Nachhall “The Book to end all Books”
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